Ole Baumfluss - Schatten der Vergangenheit

„Ole Baumfluss – Schatten der Vergangenheit“ ist meine erste veröffentlichte Kurzgeschichte. Sie erschien Ende 2022 in meiner Schülerzeitung, entstand allerdings schon lange vor dem Buch „Ole Baumfluss – der erste Fall“. Deswegen gibt es auch einige widersprüchliche Beschreibungen zwischen dieser Kurzgeschichte und dem Roman. Trotzdem entschied ich mich dazu, dass es am besten wäre, die Geschichte in ihrer ursprünglichen Form hier zu veröffentlichen. Ich hoffe, sie gefällt euch:

Ole Baumfluss schwang sich von seinem motorbetriebenen Liegerad und schulterte seinen Schulranzen. Er ließ den Fahrradcomputer in seine Tasche gleiten und wandte sich zu dem schwarzen Betonklotz, der Konrad-Adenauer Gesamtschule, die er besuchte.
Ole querte das kurze Waldstück, das zwischen Fahrradständer und Schule lag und fixierte einen der großen Seiteneingänge der Schule. Es war ein kalter Januartag und leichte Tauspuren zierten Gras und Fensterscheiben. Die Sonne versteckte sich hinter einer dicken Schicht von Sturmwolken und ließ die Szenerie dadurch in gewisser Weise gruselig wirken.
Der Junge ließ seinen Kopf kreisen, um seine Gedanken klar zu ordnen, und stieß die Doppeltür auf. Innen war es im Vergleich zu draußen fast schon mollig warm und der Gestank nach Dreck und Schweiß erfüllte die Raumluft. Der Sekundenzeiger der großen Plastikuhr über dem nach links führenden Gang zuckte von achtundzwanzig zu neunundzwanzig und wieder zurück. Die Uhr war offensichtlich – wie fast jede Woche einmal – kaputt. Der Hausmeister Alexei Koch, der gleichzeitig auch Vater von Oles bestem Freund Peter war, musste diese Uhr hassen.
Auf der anderen Seite des Raumes hing ein schwarzer Bildschirm an der Wand und sollte theoretisch die Vertretungen und den Stundenausfall verkünden. Heute jedoch schien auch das nicht zu funktionieren.
Ole schüttelte den Kopf ob der technischen Inkompetenz seiner Schule und vernahm in seinen Ohren das metallische Läuten der Stundenklingel. Er rückte nochmals den Ranzen auf seinem Rücken zurecht und trat in den Seitengang, in dem sein Klassenraum lag. Dieser war wie fast jeder andere Gang der Schule mit gelb-weißer Raufasertapete ausgekleidet.
In seinem Unterrichtsraum hingegen fand Ole die übliche bunte Ansammlung seiner Klassenkameraden vor. Hoffend ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen und stieß verärgert mit dem Ellenbogen an die Wand. Leider schadete das diesem mehr als der Tapete und er fuhr sich vor Schmerz über die gestoßene Stelle.
Sein Freund fehlte noch immer. Der russisch-deutsch stämmige Peter war schon immer Außenseiter in der Klasse gewesen. Er war still, bekam schnell Angst und seine Schusseligkeiten konnten wohl jeden in den Wahnsinn treiben. Ole jedoch hatte er ins Herz geschlossen, und die beiden verband mittlerweile eine enge Freundschaft. Seit einer Woche jedoch fehlte Peter im Unterricht. Seine Eltern konnten oder wollten ihm zumindest nichts sagen und auch sonst hatte Ole nichts über das mysteriöse Verschwinden seines Freundes in Erfahrung bringen können.
Sein Gedankenstrom wurde jäh unterbrochen, als ihre Klassenlehrerin, Frau Schulze-Werner, in den Raum trat und die Klasse allein wegen ihrer Aura verstummte. Sie war eine strenge Frau in den Mittvierzigern und hatte ihre Haare zu einem hohen Dutt zusammengezwängt. Sie trug ein graues Kostüm, dessen Stoff nicht zu identifizieren war, und altmodische Halbschuhe, die das Bild einer strengen Frau abrundeten.
Automatisch stürmte Ole zu seinem Platz in der letzten Reihe, wo er normalerweise neben Peter saß, jetzt jedoch ohne jegliche Gesellschaft sein Dasein fristete. Er stellte den Ranzen ab und kramte seine Deutschmaterialien heraus, mitsamt Federtasche und Block, den er für Notizen oder was ihm in den Kopf kam, verwendete.
Während des Unterrichts waberten seine Gedanken immer wieder zu seinem Freund und er erinnerte sich an den ominösen Besuch eines in Schwarz gekleideten Mannes letzte Woche. Im Geschichtsunterricht behandelten sie zeitweise das Thema Nationalsozialismus, und so hatte ihre Lehrerin einen Menschen von einer Wohltätigkeitsorganisation eingeladen, der ihnen einen Vortrag über die Arbeit seines Verbands gehalten hatte. Ole hatte sich in den Kopf gebrannt, wie der Mann nicht selten zu Peter geblickt und ihn aus seinen dunklen Augen fixiert hatte. Einen Tag später war Oles Freund nicht mehr in der Schule erschienen.
Als er weiter nachdachte, fielen ihm die auffällig quietschgelben Flyer der Organisation ein, die der Mann im Anschluss an seinen Vortrag verteilt hatte. Er sagte, bei Interesse könne man sich dort eintragen, wenn man denn Zeit und Lust hatte, seine Wohltätigkeitsorganisation zu unterstützen. Die meisten dieser Flugblätter waren sofort im Anschluss an das Verschwinden des Mannes im Müll gelandet.
Als Ole aus dem Meer seiner Gedanken auftauchte, musste er feststellen, dass Frau Schulze-Werner nicht anwesend und offenbar Pause war, da alle aßen und miteinander redeten. Ole erhob sich von seinem Stuhl und ging zum Mülleimer, aus dem er einen halbwegs sauberen Flyer herausfischte. Er studierte ihn, doch der Zettel schien vollkommen seriös zu sein, und so kehrte er mit diesem zu seinem Platz zurück und steckte ihn in seine Tasche.
Frau Schulze-Werner kehrte nach einigen weiteren Minuten, die Ole zum Essen nutzte, in ihre Klasse zurück und ließ den Unterricht weitergehen. So plätscherte der Rest des Vormittags ereignislos an Ole vorbei, und als schließlich die Klingel zum Ende der letzten Stunde läutete, war er einer der ersten, die am Fahrradständer ankamen.

Der Weg nach Hause in Oles Heimatdorf „Ende“ verlief ereignislos und so erreichte er den alten Bauernhof, den seine Mutter geerbt hatte, ohne große Schwierigkeiten. Er schloss sein Fahrrad in der Garage ab und klingelte an der Haustür.
Nachdem er drei Minuten lang sturmgeläutet hatte und das ohne Ergebnis geblieben war, runzelte er die Stirn und ließ sich auf dem kalten Steinboden nieder. Eigentlich müsste seine Mutter aktuell zu Hause sein. Warum also öffnete sie nicht? War sie tatsächlich nicht da? Machte sie irgendwelche Besorgungen?
Ole wusste es nicht und zog kurzerhand sein Handy aus der Tasche. Er rief über die Kontaktfunktion die Nummer seiner Mutter auf und drückte auf das grüne Wählen-Symbol. Es tutete einige Male, dann meldete sich die Mobilbox. Ole hinterließ eine kurze Nachricht mit der Frage, wo sie denn sei, dann steckte er sein Gerät wieder in seine Jacke und rutschte unruhig hin und her.
Es dauerte keine Minute, da rollte das Rad mitsamt seiner Schwester über den Platz und sie schloss es neben Oles Trike an. Dann steuerte Lisa auf ihn zu, stellte sich vor ihm auf den Asphalt und sagte zur Begrüßung: „Niemand da?“
„Scheint so.“, seufzte er und fuhr fort: „Mama ist auch nicht zu erreichen. Hab eine Nachricht hinterlassen.“
Seine Schwester nickte und setzte sich neben ihn: „Ist sie einkaufen gefahren?“
„Dann wäre sie wohl ans Telefon gegangen.“, erwiderte Ole.
Lisa runzelte die Stirn: „Ist sie vielleicht bei Papa?“
„Der ist doch in Israel.“, entgegnete er. Ihr Vater war Archäologe der Universität von Neustadt und half gern bei Ausgrabungen mit. Deshalb war er schon seit Neujahr im Nahen Osten und würde dort wohl noch ein paar Wochen verweilen. Ihre Mutter hingegen war Historikerin und untersuchte bei ihnen zu Hause oft alte Schriften oder andere Dinge.
„Klar, ja. Ich bin dumm.“, gab Lisa zu.
„Manchmal.“, neckte Ole.
„Danke auch.“, echauffierte sie sich.
Eine Minute saßen sie schweigend auf dem Stein, dann zog Ole den gelben Flyer, den er im Müll gefunden hatte aus der Tasche. Er schlug ihn auf und las ihn wortlos Satz für Satz bis zum Ende durch. Es fiel ihm einfach nichts auf, was daran komisch ins Auge stach.
Lisa deutete auf den Flyer und fragte: „Woher hast du den denn?“
In Gedanken versunken murmelte Ole die Antwort: „Aus dem Müll. Ist von diesem komischen Typen, von dem ich dir erzählt habe.“
„Und was genau willst du damit?“, fragte sie langsam wie zu einem kleinen Kind.
Ole hob den Kopf und stierte lange Zeit, ohne eine Antwort zu geben Löcher in den kalten Wind. Dann wandte er sich langsam, fast mechanisch, an Lisa: „Ich dachte, er könne Hinweise auf Peters Verschwinden geben.“
„Und wieso, wenn ich fragen darf?“, meinte Lisa in derselben, langsamen Stimme wie Ole.
Er rümpfte die Nase und fühlte sich leicht veräppelt. Dann erwachte er aus seiner Trance und antwortete: „Einen Tag, nachdem dieser Kerl in der Klasse war, ist Peter einfach nicht mehr aufgetaucht. Das könnte doch zusammenhängen!“
„Du beschuldigst irgendeinen Otto Normalverbraucher, den du nur ein einziges Mal gesehen hast, jemanden entführt zu haben? Das ist schon ein bisschen schwach, oder?“, Lisa hob eine Augenbraue.
„Natürlich beschuldige ich niemanden, Peter entführt zu haben, aber ich denke, dass es zusammen-hängt!“, rechtfertigte Ole sich.
„Und wie, bitte, kann das Verschwinden deines Freundes sonst mit diesem Typ zu tun haben?“, fragte Lisa.
„Wer sagt denn, dass Peter verschwunden ist?“, fragte er zurück.
Sie ließ sich nicht bitten: „Du. Vor circa einer Minute.“
„Ok, ok.“, Ole hob die Hände: „Diese ganze Situation stinkt einfach zum Himmel!“
„Vielleicht. Aber vor allem ist es einfach kalt!“, klärte Lisa.
Ein Schweigen entstand zwischen den Geschwistern und Ole fröstelte jede Sekunde mehr. Schließlich hielt er es auf dem kalten Stein nicht mehr aus und erhob sich. Dann patrouillierte er auf dem Hof hin und her, wobei er gedankenversunken der sinkenden Sonne entgegenblickte, während die Zeit wie ein zäher Klebstoff dahinfloss.
Immer wieder zückte Ole sein Handy und versuchte, seine Mutter zu kontaktieren, doch ein aufs andere Mal meldete sich die automatische Mobilbox. Aus den Augenwinkeln sah er, wie auch seine Schwester, die inzwischen ebenfalls auf und ab wanderte, versuchte, ihre Mutter zu erreichen, doch mehr Erfolg als ihm war ihr nicht vergönnt.
Während Ole weiter seinen Füßen folgte, stolperte er schließlich gegen eine kleine Absperrung und sah auf das kleine Ausgrabungsfeld, das ihr Vater auf dem Grundstück angelegt hatte, hinab. Er schmunzelte. Das große Loch, das in Mitten des Rasens klaffte, musste wohl jedem auffallen, der es sah. Aus irgendeinem Grund hatte ihr Vater sich in den Kopf gesetzt, hier alte Artefakte zu finden, um sie an das Neustädter Geschichtsmuseum zu verkaufen. Ohne Frage war es ein irrsinniger Traum, doch ihr Vater war mit einem solchen Feuereifer bei der Sache, dass Ole und Lisa manchmal fast wirklich glaubten, er könne etwas finden.
Je dunkler es wurde, desto unruhiger wurde Oles Gang und schließlich rannte er auf der Grünfläche auf und ab, als er plötzlich laute Motorengeräusche vernahm. Wie auf Kommando richteten sich die beiden Geschwister kerzengerade auf und fixierten die Einfahrt. Zwei helle Autoscheinwerfer durchbrachen das Dunkel der steigenden Nacht und dann kam der Wagen ihrer Eltern zum Stehen.
Die Vordertür flog auf und ihre Mutter erhob sich aus dem Auto. Als Ole sie sah, musste er einfach lachen: Sie trug einen grün-schwarz karierten Schottenrock, einen langen, dunklen Mantel, eine bunte Bluse, Schnallenstiefel samt weißer Strumpfhose und einen breiten Federhut mit Krempe.
Erhobenen Hauptes aber dennoch irgendwie gebeugt kam sie schnell auf ihre Kinder zu. Da seufzte sie schwer atmend und holte tief Luft: „Es tut mir schrecklich leid, das ihr hier draussen ausharren musstet, aber leider ließ es sich nicht anders einrichten.“
„Was ist denn passiert?“, fragte Ole halb zornig, halb perplex.
„Offensichtlich hattest du recht.“, gab ihre Mutter nicht besonders auskunftsreich zurück.
„Womit?“, hakte er nach.
„Damit, dass dein Freund verschwunden ist.“, antwortete sie und zog einen weißen Brief aus der Tasche.
„Was ist das denn?“, wollte Lisa wissen und versuchte, den Brief zu ergattern, doch ihre Mutter vereitelte das Vorhaben, indem sie ihn wieder in ihrer Tasche verschwinden ließ. Dann ergriff sie das Wort: „Das ist ein Erpresserbrief. Alexej hat ihn mir heute gezeigt und ich bin zu ihm und seiner Frau gefahren. Deshalb war ich so spät.“
„Hä?“, fragte Lisa und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
„Wie bitte?“, korrigierte Ole sie.
„Also.“, seufzte ihre Mutter: „Kurz bevor ich heute mit dem Einkauf fertig war, sah ich Alexei vor dem Laden. Er hat sehr traurig ausgesehen. Also habe ich ihn gefragt, was los sei und er hat mir diesen Brief gezeigt. Peter wurde wohl tatsächlich entführt. Es gibt eine Lösegeldforderung von Zehntausend Euro. Das Lösegeld soll Morgenabend übergeben werden. Dann würde Peter freigelassen werden.“
Oles Gesicht wechselte von zornig zu traurig zu grün. Er drehte sich um und übergab sich in das Ausgrabungsloch. Dann wandte er sich an seine Mutter: „Scheiße.“

Eine Stunde später saß Ole zusammengesunken auf dem Sofa. Ein kleiner Laptop ruhte auf seinen Knien, und er ließ seine Finger über die Tastatur fliegen.
In der letzten Stunde hatte er sich die Ereignisse des Tages noch einmal genau von seiner Mutter erzählen lassen, doch auch nicht mehr herausgefunden. Sie hatten auch bei der Polizei angerufen, doch Kriminalhauptkommissar Goldars sagte, dass es ihm leidtue, er erst darauf warten würde, ob der Entführer sich erneut melde.
Das sollte Ole jedoch bei weitem nicht reichen. Er hatte bereits die Webseite der Wohltätigkeitsorganisation aufgerufen und sich die Mitgliederliste durchgelesen. Dabei war er auf das Foto eines gewissen Karl Warschien gestoßen, der dem Mann ähnelte, der in seiner Klasse den Vortrag gehalten hatte. Zusätzlich konnte er eine Liste mit den Namen von großen Naziverbrechern auf der Seite finden, die von der Gesellschaft vergessen worden waren. Einer trug den Namen Wilhelm Koch.
Da fiel Ole ein, dass Peter ihm einmal erzählt hatte, die Kinder seines Urgroßvaters, eines schlimmen Nazis, seien nach Russland geflohen, doch deren Sohn Alexei sei erst vor einigen Jahren wieder zurückgekommen.
Darauf hatte Ole einen Wikipedia-Artikel über Wilhelm Koch gefunden, in dem einige Namen seiner Opfer aufgelistet waren. Eines dieser Opfer trug den Nachnamen Warschien.
Jetzt rief Ole das Namensregister von deutschen Nachnamen auf. Tatsächlich war der Name Warschien einzigartig. Also war es vielleicht tatsächlich dieser Karl Warschien, der seinen Freund entführt hatte? Ein Motiv, dazu noch ein plausibles, schien es ja zu geben. Rache. Kein unübliches Motiv und außerdem durchaus nachvollziehbar.
Er wechselte wieder auf die Seite der Wohltätigkeitsorganisation, und dort war doch tatsächlich die Adresse Warschiens eingetragen. Er schlug den Deckel des Laptops zu und stieß einen kleinen Jubelschrei aus.
Es dauerte nicht lange, schon standen Lisa und ihre Mutter im überfüllten Wohnzimmer. Ole wandte sich an die beiden und erklärte ihnen, was er herausgefunden hatte.
Zu seiner Überraschung nickte Lisa schnell und beschloss: „Das liegt ja sogar hier in Ende. Können wir dann aufbrechen? Ich für meinen Teil habe keine Lust zehntausend Euro an irgendeinen Heiopei zu blechen.“
„Jetzt aber mal langsam.“, rief ihre Mutter sie zur Ordnung: „Wir werden wohl kaum die Gefahr eingehen, einen mutmaßlichen Verbrecher zu besuchen!“
„Wieso?“, fragte Lisa: „Mit denen kenne ich mich aus.“
„Mit Nazis, meinst du wohl.“, neckte Ole.
„Ist doch dasselbe.“
„Nicht wirklich.“, stellte ihre Mutter klar: „Außerdem sind die meisten Nazis nicht unbedingt bewaffnet.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher.“, erwiderte Lisa: „Außerdem bist du doch Historikerin. Das Dritte Reich hatte durchaus wohl ein paar Waffen.“
„Waffen im Dritten Reich ist jetzt nicht das Thema!“, korrigierte ihre Mutter: „Es geht hier um einen Entführer. Und der hat wohl durchaus ein paar Waffen.“
„Ich für meinen Teil werde Peter jetzt daraus holen.“, unterbrach Ole den sich anbahnenden Streit.
„Wirst du nicht!“, verbat seine Mutter, doch Ole ignorierte das. Er raffte sich auf und lief in den Flur, wo er sich seine wärmsten Sachen anzog: „Ihr dürft gerne mitkommen. So ist das nicht.“
Auch Lisa fasste anscheinend einen Entschluss und zog sich warme Sachen an: „Also, Mutter?“

Die beiden Geschwister wollten es kaum glauben, als sie ihre Mutter tatsächlich wenige Minuten später zum Auto brachte und hinein bugsierte. Sie selbst setzte sich auf den Fahrersitz und zurrte den Anschnallgurt fest. Dann ließ sie den Motor aufheulen und machte ihren Kindern klar: „Wie gesagt: Ich bringe euch dahin und lasse euch euer Ding durchziehen. Aber wenn irgendetwas passiert, hol ich euch sofort daraus! Verstanden?“
Ole und Lisa beeilten sich, zu nicken, und bekundeten ihr Einverständnis. Sogleich fuhr Oles Mutter die beiden durch die Straßen des mittlerweile dunklen Dörfchens Ende, bis sie in eine schmale Seitengasse bog, die umringt von Bäumen weder Laternen- noch Mondlicht bot und so ganz im Dunkeln lag.
Aus dem Fenster konnte Ole die vagen Umrisse eines einzelnen Hauses erkennen, das eher unbewohnt aussah. Es glomm kein Licht durch die Fenster und der Garten sah verwildert und überwuchert aus.
Lisa und er stiegen aus dem Auto und liefen mit leichten Schritten hin zu dem Haus. Jetzt konnte Ole das gesamte Ausmaß der nicht vorhandenen Pflege erkennen: Die Türen der Bude hingen schief in den Angeln und das Holz, aus dem die Wände und das Dach gefertigt waren, wiesen viele morsche oder gebrochene Stellen auf. Vor die Fenster waren notdürftige Vorhänge gespannt, und ein einzelner kurzer Trampelpfad verband den Garten und das Haus.
Lisa seufzte: „Sieht ja einladend aus.“
Ole gab zurück: „Hier ist auf jeden Fall die eingetragene Adresse.“
Lisa hob eine Augenbraue: „Hier? Vielleicht war es eine Fälschung.“
Ole deutete auf einen kleinen Kasten neben der Tür: „Das ist doch ein Briefkasten! Hier wohnt jemand.“
„Also gut.“, meinte Lisa und hetzte den Trampelpfad zum Haus hinauf. Als Ole oben ankam, hämmerte sie bereits gegen das kleine Klingelschild und ließ es selbst in Oles Ohren gellen. Nach einer Minute schwang die Tür plötzlich von innen auf und ein kleiner Mann, der tatsächlich die schwarze Kleidung aus Oles Erinnerung trug, blickte ihnen traurig entgegen. Er erhob das Wort, und Ole hörte ein schwaches Zittern in seiner Stimme. Dem Mann schien es eindeutig nicht gut zu gehen. Doch in seinen Worten lag keinerlei Schwäche: „Hallo. Ich habe euch schon erwartet. Mein Name ist Karl Warschien, doch ich nehme an, das wisst ihr bereits.“
„Du bist Warschien?“, verlangte Lisa eine Bestätigung.
„So ist es. Und Peter ist auch hier.“, meinte er: „Wobei ihr letzteres wahrscheinlich ebenfalls schon wusstet.“
„Du hast ihn entführt?“, Zorn kochte in Ole hoch.
„Ich fürchte, das habe ich.“, bestätigte er und klang dabei seltsam melancholisch.
„Wo ist er?“, fragte Lisa laut und deutlich, während sie ihre Hand zur Faust ballte.
„Ich habe Gewalt immer verabscheut. Und das tue ich noch immer.“, ignorierte Warschien Lisas Frage, während er einen schimmernden Gegenstand aus seiner Hose zog. Das Messer stand in einem starken Kontrast zu der Umgebung: „Ich werde euch nichts antuen. Wenn ihr mir nichts antut!“
„Wo ist Peter?“, fragte Ole und ballte seine linke Hand zur Faust. Die rechte, wo er eine körperliche Einschränkung hatte, war in Stresssituationen sowieso immer zur Faust geballt.
„Hört mir zu!“, verlangte Karl im Gegenzug und fügte mit leiser Stimme hinzu: „Bitte.“
Lisa handelte als erste: Sie packte Karl an dem Arm, mit dem er das Messer hielt, es war der rechte, und schlug ihm auf die Hand. Das Messer fiel zu Boden und sie warf Warschien gegen seine eigene Flurwand. Blitzschnell griff sie das Messer und hielt es dem Entführer an die Kehle: „Wo ist er?“
Karls Atmung geriet ins Stocken und Lisa ließ ihn los, behielt aber das Messer in der Hand. Währenddessen sprach Karl mit leiser Stimme: „Das Messer kannst du behalten. Aber meine Angehörigen brauchen nicht noch ein ermordetes Familienmitglied.“
„Was sagtest du?“, fragten Ole und Lisa simultan nach.
„Es wurden schon drei ermordet. Drei meiner Verwandten. Lasst es mich euch erzählen. Dann kriegt ihr Peter zurück. Ich bin vielleicht ein schlimmer Mensch, aber ihr könnt mir vertrauen!“, erklärte Karl.
„Dann erzähl es uns. Was auch immer es sein mag.“, entschied Ole.
Als Warschien begann, klang seine Stimme belegt und erfüllt von tiefer Trauer: „Meine Großeltern sollten die ersten sein. Beide wurden sie ermordet. Von diesem verdammten Koch! Erst viele Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Wir sind eine jüdische Familie, müsst ihr wissen. Nachdem das Regime untergegangen ist, dachten wir, wir könnten hier in Deutschland sicher leben. Wir haben gute Arbeit geleistet und freilich, es ging uns gut. Eines Tages kam dann Wilhelm Koch. Und er hat meine Großeltern getötet. Gefoltert und ermordet hat er sie! In einem persönlichen „Rachefeldzug“! Nie wurde er zur Verantwortung gezogen. Seitdem lebt unsere Familie in stetiger Angst. Angst davor, dass wieder etwas passiert. Wir zogen viel herum, lebten nirgendwo lange. Dann irgendwann, dachten wir, es sei vorbei. Diese Nazischweine seien vielleicht tatsächlich ein für alle Male besiegt! Also ließen wir uns nieder. Und dann starb meine Tante. Von einem auf den anderen Tag, ermordet bei einem Anschlag. Die Medien haben von einem Geisteskranken geredet. Von einem Terroristen! Ich weiß nicht, wovon noch. Doch es waren Nazis. Neonazis! Ich bin hierher geflüchtet, wollte ein normales Leben führen. Seht, was mit mir passiert ist. Alles haben die Nazis uns genommen. Ich musste einfach etwas tun. Und als ich erfuhr, dass diese Kochfamilie wieder hier ist, habe ich gehandelt. Es tut mir leid. Ich habe genau das getan, was ich hätte nicht tun dürfen.“
„Aber warum lässt du ihn nicht einfach gehen, wenn du eingesehen hast, dass es falsch war?“, hakte Lisa nach, doch ihre Stimme klang deutlich leiser und verständnisvoller.
Auch Oles Stimmung belegte sich. Ihm wurde schlecht. Doch dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Karl, der schon weitererzählte: „Ich weiß, es klingt banal, aber es ist wegen des Geldes. Ich brauche es. Und das nicht für mich. Für meinen Sohn. Otto. Er und seine Mutter haben mich vor wenigen Jahren verlassen. Es war, als dieser Nazi meine Tante in den Tod gerissen hat. Ich kam damit nicht klar. Fing an zu trinken. Einmal guckte ich wohl zu tief ins Glas. Kam stockbesoffen und johlend nach Hause. Schlug um mich. Zerstörte Einrichtung, den Fernseher, alles was wir hatten. Anna, meine ehemalige Frau, verließ mich. Nahm Otto mit. Meinen geliebten Sohn. Aber was solls? Letzten Endes hatte sie nicht Unrecht. Und dann stand ich allein da. Gründete die Wohltätigkeitsorganisation, doch die brachte kein Geld ein. Besorgte mir notdürftige Jobs. Kam irgendwie über die Runden. Und dann erhielt ich die Nachricht. Otto hat einen schweren Unfall erlitten und liegt im Koma. Versicherung, diese verdammte Privatversicherung, zahlt nicht. Ich brauche das Geld, sonst stirbt mein Sohn. Sonst stirbt Otto!“
Damit verschwand Karl wortlos durch eine Tür, doch Ole konnte keinen Blick auf den Raum dahinter erhaschen. „Oh.“, mehr brachten die Geschwister nicht zustande. Ole starrte auf den vermoderten Teppich, der den Flurboden bedeckte. Ein solches Schicksal sollte nie jemand auch nur annähernd erleben. Das verdiente kein Mensch. Verdammte Nazis! Wem werdet ihr noch das Leben nehmen? Wem noch? Da öffnete sich eine Tür und an Karls Seite lugte Peter durch den Spalt! Der stieß die Tür auf und kam auf seinen Freund zu. Während sie sich begrüßten und umarmten hielt sich Karl Warschien im Hintergrund bedeckt.
Schließlich jedoch war das alles getan und Warschien räusperte sich ein letztes Mal: „Nun geht schon. Ich bin mir sicher, wir sehen uns bald wieder.“ Er verabschiedete sie mit einem traurigen Lächeln.

Keine halbe Stunde später war Peter von seinen Eltern durchgeknuddelt, bemitleidet und bekocht worden. Sie saßen zusammen auf den großen Sofas der Familie Koch und Peter erzählte von seinen Erlebnissen. Offenbar hatte sich Warschien auch ihm anvertraut und ihn gut versorgt.
Schließlich jedoch erhoben Ole und Lisa die Stimme und erzählten von Karls tragischem Schicksal. Traurige Minen zeichneten die Gesichter aller Anwesenden, sowie sie geendet hatten, doch nach einigen Minuten Schweigen erhob Ole und Lisas Mutter die Stimme: „Nun denn. Er mag ein schlechter Mensch sein, er hat dich entführt, Peter. Das steht fest, doch niemand hat so ein Leben verdient. Wir werden für die vollen Kosten aufkommen, die die Behandlung seines Sohnes benötigt!“

Nach oben scrollen